Was hat eigentlich der Mercedes-Benz Sprinter, was ich nicht habe? Zugegebenermaßen, die wenigsten Männer (und Frauen) dürften sich diese Frage beim Flirten an der Bar oder im Club schon gestellt haben. Aber warum eigentlich nicht? Man male sich aus, wie vor dem inneren menschlichen Auge ein kleines gelbes Signal aufleuchtet, das analog zum Abstandswarner des Transporters vor einem bereits vergebenen Objekt der Begierde warnt. Oder aber dessen Spurhalteassistent, der nach durchzechter Nacht auf dem Heimweg durchaus auch dem Gleichgewichtssinn des Homosapiens gute Dienste erweisen könnte. Ob unsere Fahrzeugentwickler ihre Erkenntnisse den Humanbiologen zur Verfügung stellen sollten?
Auf der COMTRANS, einer auch weltweit immer wichtiger werdenden Nutzfahrzeugmesse in Moskau, erlebe ich einen weiteren Vorzug des Fahrzeugs, auf den ich als nicht vierrädriger Zeitgenosse neidvoll blicke: Der Mercedes-Benz Sprinter „spricht“ nach den Worten von Volker Mornhinweg, Leiter Mercedes-Benz Vans, nämlich Russisch – und wäre damit, ganz im Gegensatz zu mir, in der Lage, problemlos eine heiße Schokolade auf dem internationalen Flughafen Moskaus zu bestellen. Ohne den Einsatz wild gestikulierender Hände und Füße, pardon, durchdrehender Vorder- und Hinterräder.
Da sich der Transporter aus kalorienreichem, nur zähflüssig zerlassenem Kakao jedoch recht wenig macht, setzt er seine Sprachfähigkeiten an anderer Stelle ein. Der in Zusammenarbeit zwischen Daimler und dem russischen Hersteller GAZ in Nizhny Novgorod produzierte „Sprinter Classic“ spricht Messebesucher und potenzielle Kunden unter anderem mit einem überarbeiteten Antriebsstrang und verstärkten Stoßdämpfern an, um für die Fahrt auf dem landesweit gespannten Netzwerk an Sowjetunion-Gedächtnisstraßen gerüstet zu sein (aus gutem Grund formulieren PR- und Marketingexperten den letzten Halbsatz etwas freundlicher).
Doch darauf beschränken sich die interkulturellen Kompetenzen des Transporters nicht. „Marschrutka Taxi“ (Маршрутка такси) heißt eine ebenfalls auf der Messe zu besichtigende Spezialedition des Sprinter, die der gleichnamigen russischen Tradition Rechnung trägt, sich mit meist privat betriebenen Kleinbussen in die Stadtbezirke ohne U-Bahn-Anschluss kutschieren zu lassen. Die Russland- und Russisch-Kenntnisse tun bei Inanspruchnahme des Fahrdienstes übrigens nicht nur dem Fahrzeug gut, sondern auch dem geneigten westlichen Fahrgast. Denn dem zuweilen recht dubios dreinblickenden Marschrutka-Fahrer seine Marschroute (immerhin ein deutsches Lehnwort!) auf Englisch oder gar Deutsch entlocken zu können, ist in etwa so wahrscheinlich, wie Moskau ohne mittelschweres Verkehrschaos zu erleben.
Überhaupt, so wird auf der COMTRANS ebenfalls deutlich, will die von der erbarmungslosen Weltgeschichte so geschundene russische Seele mit viel Weiß-Blau-Rot gestreichelt werden. Auf Pferden durch die Taiga reitende, oberkörperfreie Firmenlenker sind zwar nirgends zu erblicken, aber: Kaum ein Messestand, der nicht mit den Farben der Nationalflagge spielt, kaum Aussteller, die ihre in Russland fabrizierten Erzeugnisse nicht besonders in Szene setzen. So konzentriert ist man auf das Demonstrieren des Lokalpatriotismus, dass mancher Wettbewerber vergisst, seine Pressematerialien auch auf Englisch feilzubieten oder der versammelten internationalen Journalistenschar eine entsprechende Übersetzung seiner landessprachlichen Pressekonferenz bereitzustellen. Die Marschroute hin zur gänzlich international ausgerichteten Messe hat die COMTRANS begangen – gänzlich angekommen ist man indes noch nicht.
Umso hilfreicher also, dass Daimler neben dem Russisch sprechenden Sprinter noch weitere lokale Schmankerl zu bieten hat. Dazu gehören beim Messe-Rahmenprogramm unter anderem die Moskowiter Sängerin Tatiana Blanka (die mit ihrer rassigen Interpretation von „Underneath Your Clothes“ den Zuhörern zwar nicht an die Wäsche, aber unter die Haut geht), starke, mit Baumstämmen tanzende Sowjetjungs sowie zwei russische Kampfsportler, die mit bloßen Händen Metallstangen verbiegen und ganze Telefonbücher zerreißen. Produktstar der Show ist jedoch der 5.000ste in Russland gefertigte Mercedes-Benz Lkw, ein Actros 1841 LS, der auffallend kontrastreich in einem knalligen Gelb lackiert ist – ganz unabhängig von Farbspielen aber unter Beweis stellt, wie global die Daimler Trucks-Sparte in der Zwischenzeit unterwegs ist. Ein kurzer Blick auf den benachbarten Stand der Daimler-Tochter FUSO, die demnächst ebenfalls ihr 5.000stes Produktionsjubiläum in Russland feiern dürfte, rundet diesen Eindruck endgültig ab.
Bei so viel Russophilie lasse auch ich mich nicht länger lumpen und rufe mir in der Zwischenzeit einige Wörter in Erinnerung, die aus meinen wenigen Russisch-Stunden im Gedächtnis geblieben sind. Gut, dass es neben der „Marschroute“ auch noch Lehnworte wie „Schlagbaum“ (шлагба́ум), „Rucksack“ (рюкза́к), „Absatz“ (абза́ц) oder „Kurort“ (куро́рт) gibt – deutsche Wörter also, die ins Russische übernommen wurden. Wie man aus diesen Begriffen eine vernünftige Unterhaltung am Tresen in Gang bringen kann, ist mir zwar noch schleierhaft. Aber es wäre doch gelacht, wenn mir dieser Tausendsassa Sprinter beim Flirten zuvorkommen würde…