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“Wings on Wheels” – Elf Trucks und über 300 Tonnen Hilfsmittel: Ziel erreicht

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Wie alles begann: Hier geht’s zum ersten Teil des Berichts. Vielleicht ist das ja die Bewährungsprobe für den Konvoi: Unglaublich lange fünf Stunden stehen die Trucks und die Begleitfahrzeuge jetzt schon im Zollhof an der Grenze zwischen Bulgarien und der Türkei. Auch wenn alle Beteiligten gewohnt sind, sich mit irgendeiner Form von Bürokratie plagen zu müssen – bei einem derartigen Vorhaben ist das ein anderes Gefühl. Man ist überzeugt, Gutes zu tun, und mag einfach nicht verstehen, warum Zollbeamte trotzdem alles ganz streng sehen und jeden Buchstaben zweimal umdrehen, bevor sie ihre Stempel auf die vielen Papiere setzen.

Der Ton wird schärfer, die Warterei zehrt an den Nerven. Als die Dämmerung aus dem Osten heranrollt, deuten sich endlich Lösungsmöglichkeiten an. Um die Mittagszeit sind die Trucks auf den Zollhof Kapikule gerollt, gegen 21 Uhr kommen sie endlich weiter. Auch mich hat die Warterei genervt, ich ärgere mich am Ende über einen sturen Uniformträger, der erklärt, der Stempel, den ich für die Ausreise mit dem Begleitfahrzeug benötige, sei bei ihm nicht zu haben. Also zurück zum Büro des Inspektors, der dem Kollegen etwas auf türkisch zuruft. Und plötzlich geht es doch, sogar ein freundliches Lächeln gibt es als Dreingabe.

Am Abend kann ich in Istanbul meine Emails lesen – und plötzlich frage ich mich, warum ich mich über einen Beamten ärgere, der mir auf einer langen Reise ein paar unangenehme Minuten beschert hat. Ein Verwandter des Geschwisterpaars, über die ich im ersten Beitrag berichtet habe, hat eine Email mit der Bitte um Hilfe verschickt. Am nächsten Morgen stehen die Lastwagen perfekt aufgereiht auf dem Werksgelände von Mercedes Benz Türk in Istanbul. Die türkischen Medienvertreter sind zu Gast, informieren sich ausführlich über „Wings on Wheels“ und wir erfahren, dass die Dimensionen des Flüchtlingsdramas gewaltig sind. Die bekannte Zahl von rund 210.000 syrischen Flüchtlingen in der Türkei bezieht sich nur auf die Menschen, die in den Lagern leben und dort registriert wurden. Aber zahlreiche Syrer sind im Land bei Verwandten, Freunden oder anderweitig untergekommen, und deshalb schätzt man, dass sich bis zu einer Million Flüchtlinge aus dem Nachbarland in der Türkei aufhalten.

Anschließend fahren wir über den Bosporus auf die asiatische Seite der Mega City, die ebenfalls Probleme hat, die Zahl ihrer Einwohner präzise zu ermitteln. 15 Millionen sind es offiziell, es könnten auch 20 Millionen sein. Deshalb fährt man nicht eben so „durch Istanbul“, die Stadt mit ihren Suburbs komplett zu durchqueren, bedeutet, eine 140 km lange Reise zu unternehmen. Die Rush Hour ist lange vorbei, der Verkehr läuft und das Konvoi-Gefühl stellt sich ein: Der Fokus ist auf das Ziel gerichtet. Wie viele Kilometer sind es noch, wie viele Tage werden wir dafür brauchen? Wann wollen die Fahrer ihre nächste Pause machen? Alles andere verschwimmt. Die Landschaft ist eine Kulisse, die unablässig weiter geschoben wird. Manches, wie vor einigen Tagen in Rumänien die Silhouette von Sibiu, die sich vor den regengrauen Bergen abzeichnet, ist es wert, abgespeichert zu werden. Andere Szenen nimmt man kaum wahr. Irgendwann verliert sich die Erinnerung daran, welcher Wochentag gerade ist, wie lange die Fahrt schon gedauert hat. An diesem Tag schafft es die Kolonne bis nach Aksaray. Dort parken die Ekol-Fahrer weit nach Mitternacht die Actros-Sattelzugmaschinen gleich neben dem großen Lastwagenwerk von Mercedes Benz. Am nächsten Morgen unterbricht Klaus Pfeifer, der Werksleiter, ein Meeting, um dem Konvoi eine gute Schlussetappe zu wünschen. Etwas mehr als 500 km trennen uns noch von Gaziantep. Sieben Stunden Fahrzeit durch beige Ebenen und das Taurus Gebirge und eine 45-Minuten-Pause später ist das Ziel erreicht: Das Zentrallager von Türk Kizilayi, bei uns als „Roter Halbmond“ bekannt. Die Fahrer haben einen perfekten Job gemacht und fast 4000 km mit höchster Präzision abgespult. Nicht der kleinste Kratzer ist an den Trucks zu finden.

Nach rund fünf Tagen haben über 300 Tonnen Hilfsmittel, die von der Hilfsorganisation „Luftfahrt ohne Grenzen“ gesammelt worden waren, und zwei Mercedes-Benz Sprinter-Krankenfahrzeuge ihr Ziel erreicht. Die Lieferung soll helfen, die Versorgungslage in den zahlreichen Lagern beiderseits der Grenze zu verbessern. Außerdem haben die Sattelzüge Decken und winterfeste Zelte geladen, die vor Beginn der kalten Jahreszeit dringend benötigt werden.

Am nächsten Tag sollen die Zollformalitäten erledigt werden, aber das klappt selbstverständlich nicht auf Anhieb. Statt vielleicht vergeblich auf ein „Gabelstapler-Foto“ zu warten, entschließen wir uns, die Menschen zu suchen, für die der Konvoi ja eigentlich gemacht wurde. Werden wir überhaupt syrische Flüchtlinge zu Gesicht bekommen? Am Vortag haben wir noch einmal erfahren, dass die türkischen Behörden die Flüchtlingscamps streng abriegeln. Wer dort fotografieren will, muss sich de facto akkretitieren. Das strenge Regiment erklärt sich durch die verworrene Lage an der Grenze: Immer mehr Fundamentalisten mischen sich in den Konflikt ein, zudem fürchtet die Türkei nicht zu Unrecht Provokationen von welcher Seite auch immer. In Reyhanli und dem dortigen Grenzposten Cilvego gab es im Frühjahr bereits Bombenanschläge mit Dutzenden Toten.

Die Straße, an der das Zentrallager liegt, führt weiter zum Grenzübergang bei Kilis, der tags zuvor wegen heftiger Kämpfe im nächstgelegenen Dorf auf syrischer Seite geschlossen wurde. Um so bizarrer wirkt es, als wir auf dem Weg nach Süden einen Baustellenabschnitt passieren: Die vierspurige Straße, in Richtung Syrien, wird weiter ausgebaut – Hoffnung auf bessere Zeiten?

Gleich neben dem Grenztor befindet sich ein kleines Camp, in dem sich einige Dutzend Flüchtlinge aufhalten. Ein vergleichsweise winziges Lager. Aber die Not ist hier noch größer. Im Schatten eines großen Zelts sitzt ein Mann auf dem Boden und durchsucht leere Medikamentenpackungen. Vermutlich waren die Schachteln auch am Vortag schon leer, dabei bräuchte der Syrer dringend Arzneimittel und einen Doktor. Er zieht sich Anorak und Hemd hoch, auf dem Bauch klebt Verbandsgaze. Der Flüchtling löst den Verband, damit auch kein Zweifel mehr besteht, dass er angeschossen wurde. Seine Leidensgeschichte begann, als er beim Aufhängen eines Plakats mit Freiheitsparolen gefilmt, inhaftiert und gefoltert wurde.

Wie sollen die Familien in diesem Camp über den Winter kommen? Ihre „Unterkünfte“ bestehen aus Plastikplanen, aufgeschlitzten Säcken oder dünnen Folien. Sie haben kaum etwas zum Essen, die Kinder gehen seit Jahren nicht mehr zur Schule, die hygienischen Verhältnisse sind katastrophal. Ein Mann erzählt, er sei vor 46 Tagen in das Camp gekommen – und habe seitdem keine Möglichkeit gehabt, sich zu duschen. Als sein 14-jähriger Sohn dem TV-Team sein Fotoalbum zeigt, bricht er in Tränen aus: Zu viele Verwandte, Mitschüler, Freunde sind schon gestorben. Seine kleine Schwester Fatma wurde nur 5 Monate alt. Dann beendeten Schrapnellsplitter ihr Leben.

Über den Autor:
Richard Kienberger beschäftigt sich als freiberuflicher Journalist vor allem mit Themen aus der Transportbranche. Seine Reportagen, für die er weltweit unterwegs ist, werden regelmäßig von zahlreichen Fachzeitschriften sowie Corporate-Publishing-Medien in ganz Europa publiziert. Darüber hinaus arbeitet er für renommierte Unternehmen aus der Nutzfahrzeugbranche. In Kooperation mit der Daimler AG porträtierte der Fotograf und Textautor 2012 in dem Buch „Horn Please – Bitte hupen“ deren neu gegründete indische Nutzfahrzeugtochter DICV und beschäftigte sich mit der aufstrebenden Wirtschaftsmacht Indien sowie den Besonderheiten des dortigen Transportmarkts. 2005 veröffentlichte Kienberger den Reportageband „Hammermenschen“, in dem sich ebenfalls seine langjährige Leidenschaft für den indischen Subkontinent spiegelt. In dem Buch geht es um indische Männer und Frauen, die ihren Lebensunterhalt vorwiegend mit einem Hammer verdienen. Sein aktuelles Buch- und Ausstellungsprojekt beleuchtet unter dem Titel “Zohre escaped.” den Themenkreis Flucht, Migration, Vertreibung, Migration und Neuanfang. Weitere Informationen unter www.richard-kienberger.de


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